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Glossar
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Safety Last! / Ausgerechnet Wolkenkratzer
[Fred C. Newmeyer, Sam Taylor, USA 1923, mit Harlold Lloyd]
„Safety Last!“ hat Harold Lloyd unsterblich gemacht. Hollywoods erfolgreichster Komiker der 20er Jahre schuf mit dieser atemberaubenden „thrill-comedy“ ein Meisterwerk, dessen Schlußsequenz sich in das Gedächtnis jedes Zuschauers eingräbt: Das Bild von Harold, der an einem Uhrzeiger hängt, während unter ihm eine Straßenschlucht gähnt, ist eine Ikone der Filmkunst.
Harold Lloyd spielt Harold, den Jungen vom Lande, der in der großen Stadt sein Glück machen will. Zurück bleibt das Mädchen Mildred, das er durch Macht und Reichtum zu beeindrucken versucht. Obwohl das Leben als kleiner Verkäufer in einem Warenhaus mühsam ist und das Fortkommen langsam, präsentiert sich der Junge in den Briefen nach Hause als Senkrechtstarter. Doch das Lügengebäude gerät ins Wanken, als Mildred zu Besuch in die Stadt kommt. Aus Angst vor Entlarvung wächst Harold über sich hinaus.
In den Filmen von Harold Lloyd geht es immer wieder um die Bewährung des schmächtigen Jungen mit der großen runden Hornbrille, der erst noch zeigen muß, was in ihm steckt. Er tut das mit Cleverness und Charme und widerlegt den Eindruck vom Anfang, er sei naiv und ungeschickt. Sein unbedingtes Streben nach Anerkennung und Wohlstand machen dabei den Jungen zu einem kleinbürgerlichen Helden, der für sich den „american dream“ verwirklichen will. Daß er auf dem Weg zum Ziel zwar Erniedrigung und Schmerz nicht scheut, ebenso wenig aber auch Schwindel und Aufschneiderei, enthüllt die moralische Ambivalenz dieses Charakters. Lloyds große Konkurrenten, Chaplin und Keaton, behaupten in ihren Rollen oft ein distanziertes Verhältnis zu den Zwängen der Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu steht Harold in „Safety Last!“ mit beiden Beinen in einer Welt der oberflächlichen Konsum- und Aufstiegsfantasien. Der schöne Schein ist für diese Figur wichtiger als das triste Sein.
Hinter den Witzen und dem Spektakel ist die soziale Misere des kleinen Mannes als eine Realität der „Roaring Twenties“ unübersehbar: Sie reicht von der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu den kleinlichen Zurechtweisungen durch den Vorgesetzten und kulminiert in jener Szene, in der sich der Junge vor einer wogenden Menge aggressiver Kundinnen schützen muß, die ihm die Kleider vom Leib reißt. Der Konsumtempel wird zum Raubtiergehege, die Erwiderung der Liebe zum Faktor von Prestige und der soziale Aufstieg zu einer Frage von Schwindelfreiheit und Schuhwerk. Das Erklimmen des Wolkenkratzers am Ende mit den Alternativen Aufstieg und Sieg oder Absturz und Tod ist lediglich die bezwingende Metapher für den komisch inszenierten Kampf ums soziale Überleben.
Einmalig ist „Safety Last!“ aber nicht wegen seiner Geschichte. Vielmehr faszinieren die perfekte Beherrschung der filmischen Mittel, das Timing und der visuelle Einfallsreichtum des Teams um Lloyd. Die früher geübte Kritik, Lloyds Gags seien mechanisch, ist falsch und der Vorwurf mangelnder Intellektualität und des Schielens auf die Gunst des Publikums deplaziert. Neben Chaplin und Keaton ist Harold Lloyd der „Third Genius“ des amerikanischen Stummfilms.
Philipp Stiasny, 23.4.2006
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Bilder: Filmmuseum Berlin
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