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Stummfilme / Musiker

Panzerkreuzer Potemkin

PANZERKREUZER POTEMKIN erzählt von einer Revolution, die Naturereignis und gesellschaftliche Umwälzung zugleich ist. Sergej Eisenstein unterscheidet nicht zwischen Menschen und leblosen Dingen, sein Filmmaterial komponiert er nach einem modernen Rhythmus: die Maschinen des Panzerkreuzers dirigieren die Menschenmenge, der Kanonendonner lässt Löwen aus Stein aufbrüllen und ein rollender Kinderwagen hüpft über Soldatenstiefel. In PANZERKREUZER POTEMKIN spreche der Film, so ein zeitgenössischer Kritiker, seine Muttersprache.

Der junge, enthusiastische, aber im Filmgeschäft noch unerfahrene Eisenstein hat Glück. Eigentlich kommt Eisenstein vom Theater. Sein revolutionäres, politisches Arbeiter-Theater bedient sich großzügig des neuen Mediums Film. Aus solchen Experimenten heraus entsteht STREIK (UdSSR 1925), ein von Anfängern realisierter Film. Lediglich Eisensteins Kameramann Eduard Tissé hat Erfahrung im Filmgeschäft. Und plötzlich erhält Eisenstein mit PANZERKREUZER POTEMKIN die Chance seines Lebens: Einen Staatsauftrag, eine Serie von Filmen anlässlich des 20. Jahrestags der Revolution von 1905. Eisenstein realisiert nur eine Episode, die die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin und die anschließende Solidarisierung der Bevölkerung von Odessa mit den Aufständischen zeigt. Der Film hat im Dezember 1925 Premiere und wird ein gewaltiger Erfolg. In Moskau läuft er parallel zu Douglas Fairbanks ROBIN HOOD (USA 1922). Wie die Eisenstein-Biografin Oksana Bulgakowa schreibt, besiegt PANZERKREUZER POTEMKIN den Klassenfeind mühelos an der Kinokasse. Doch schon bald stockte die Kinoauswertung von Eisensteins Film in der Sowjetunion, die das Filmmaterial für Verleihkopien teuer aus dem Westen importieren musste. In Odessa z.B. lief der Film erst 1927 in den Kinos an.

In Deutschland hingegen kam der Film im Januar 1926 und sorgte gleich für Streit innerhalb der politischen Lager. Als „Blutrausch-Film“ und „Mordfilm aus Moskau“ beschimpft, wird der Film schnell verboten. Ein Kritiker des „Berliner Lokal-Anzeigers“ schreibt: „Dann kommt der Gipfel der Roheit, das Blutbad von Odessa, wovon kein roter Tropfen erspart bleibt. Der Paukist unten im Orchester bearbeitet unser Trommelfell, und auf der Leinwand sieht man, wie Männer, Frauen und Kinder unter den Schüssen der Kosaken zusammenbrechen. Der Geruch von Blut breitet sich im Zuschauerraum aus, der aus Menschen Tiere macht. Frauen kreischen auf, der Bürger, der überall mit dabei sein muß, wird blaß, und der Mann mit dem roten Schlips stößt Wutschreie aus. Der Herr Polizeipräsident aber, der sich von dieser Wirkung überzeugen kann, sieht ruhig mit an, wie hier Wind gesät wird, damit einmal Sturm geerntet werden kann.“ (Berliner Lokal-Anzeiger, 8.5.1926) Erst Monate später wird PANZERKREUZER POTEMKIN in einer von Einsenstein selbst umgeschnittenen Fassung neu zugelassen. Der Russenfilm tritt endlich seinen Siegeszug an, und der Film hat Einfluss auf viele Bereiche des kulturellen Lebens der Weimarer Republik. Max Reinhardt äußert sich anerkennend: „Jetzt bin ich zum erstenmal bereit, zuzugeben, daß das Theater dem Film den Weg freigeben muß.“ Ein Kritiker der „Neuen Berliner Zeitung“ schreibt euphorisch: „Dieser Film ist eine einzige lodernde Fackel der Geschichte. Sein Antlitz trägt die hellen Augen der Priesterin: Ewigkeit.“ Der Filmkritiker Alfred Kerr analysiert: „Er [der Filmrusse] knetet nicht Wirklichkeit um, sondern spiegelt sie. [...] Er stellt nicht, sondern schneidet aus.“ (Alfed Kerr: Russische Filmkunst, Berlin 1927, S. 14) Kurt Pinthus schließlich zeigt sich von „der Essenz und dem Rhythmus des Wirklichen“ derart begeistert, dass für ihn Realismus im Film „viel übernatürlicher, phantastischer erscheint als das künstlich-konstruiert-Phantastische.“

Eisensteins Film aber ist alles andere als abgefilmte Realität. Das Filmepos ist minutiös durchkomponiert und besteht wie eine antike Tragödie aus 5 Akten. Das Besondere aber an PANZERKREUZER POTEMKIN ist Eisensteins unverwechselbare Montagetechnik, die den Zuschauer aktiv in das Geschehen auf der Leinwand einzubeziehen sucht. Die einzelnen Einstellungen ergänzen sich bei Eisenstein nicht, es sind keine Buchstaben, die aneinandergereiht ein Wort ergeben. Im Gegenteil, jede einzelne Einstellung steht in Konflikt zur vorherigen: die Großaufnahme folgt auf eine Totale, Stille auf Chaos, vertikale Linien auf horizontale, die Gewehrkolben der Matrosen auf das Kanonenrohr des Panzerkreuzers. Eisensteins Augenmerk richtet sich auf den „goldenen Schnitt“, den Moment, an dem die Ablösung einer Einstellung von der nächstfolgenden, die maximale Wirkung beim Zuschauer erzielt. Die dialektische Synthese, der Übergang von einem Extrem ins andere, von einem Gefühl zum anderen vollzieht sich nach Eisenstein im Kopf des Zuschauers. Das Kunstwerk bezeichnet er als einen „Traktor, der die Psyche des Zuschauers mit der geforderten Klassenzielsetzung umpflügt.“ Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Jürgen Dittrich, 24.6.2006

Filmbilder: Filmmuseum Berlin

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